Sonntag, 4. Juni 2023

[ #Vorarlberg ] Die deutschfreiheitliche Propaganda vom "Kanton Übrig"

Ausschnitt NZZ vom 14. Mai 1914

NZZ. Über die Abstimmung vom 11. Mai 1919 berichtete die Neue Zürcher Zeitung im Mittagsblatt vom Mittwoch, 14. Mai. Der ausführliche Bericht unter dem schlichten Titel "Vorarlberg" beginnt wie folgt:

"Die Volksabstimmung vom letzten Sonntag hat eine Vierfünftelmehrheit zugunsten des Anschlusses an die Schweiz ergeben. Der Abstimmung gingen ungemein rege Auseinandersetzungen zwischen Freunden und Gegnern in der Öffentlichkeit vor. Wir bedauern lebhaft, hier konstatieren zu müssen, dass die Opponenten sich dabei verschiedentlich im Ton arg vergriffen haben. Die Führung der Opposition hatte das sog ‚Schwabenkapitel’ übernommen, eine Vereinigung mit unverkennbar alldeutschem Einschlag alten Stils, also eine Geistesrichtung, die uns besonders antipatisch ist ..."

"Kanton Übrig". 82 Prozent der Vorarlberger Bevölkerung stimmten im Jahr 1919 für einen Anschluss an die Schweiz. Inhaltlich startet die Ausstellung mit dem Tode Kaiser Franz Josephs sowie dem Untergang der österreichisch-ungarischen Monarchie und endet mit dem Friedenvertrag von Saint-Germain-en-Laye. So wird das zentrale Thema der Schau, die Ereignisse um die Vorarlberger Anschlussbestrebungen an die Schweiz, in einen internationalen historischen Kontext eingebunden. Besuchern aus dem In- und Ausland soll damit die Möglichkeit geboten werden, sich der Thematik aus unterschiedlichen Richtungen zu nähern.

Deutschfreiheitliche Propaganda gegen die Schweiz. "Die Phrase des 'Kanton Übrig' muss als unzutreffend beurteilt werden. Ein Anschluss Vorarlbergs an die Schweiz fand in der Eidgenossenschaft Zuspruch. Was die wenigsten wissen dürften ist, dass die geflügelten Worte auf einem gleichnamigen Flugblatt beruhen, das in ganz Vorarlberg kursierte. Der anonyme Unterzeichner Z. – ein Befürworter des Anschlusses an Deutschland – führte dort aus, in der Schweiz würde das ungeliebte und abgelehnte Vorarlberg höhnisch als 'Kanton Übrig' bezeichnet. Bei einer Landtagssitzung im Juli 1919 wurde bekannt, dass es sich beim Verfasser Z. nicht um Zorro handelte – die Romanfigur wurde, man glaubt es kaum, im selben Jahr erfunden. Vielmehr enttarnte Landeshauptmann Ender den deutschfreiheitlichen Abgeordneten Anton Zumtobel, einen Dornbirner Anwalt, als Urheber (Franz Anton Zumtobel * 4. Juli 1876 in Dornbirn; † 26. September 1947 ebenda, war ein österreichischer Politiker der Großdeutschen Volkspartei und Jurist. Er war von 1919 bis 1932 Abgeordneter zum Vorarlberger Landtag). Zumtobel stand zur Autorschaft und gestand, das Machwerk 'verbrochen' zu haben. 'Ich muß gestehen, daß ich viel geschrieben habe, was sich später leider nicht als wahr erwiesen hat', gab er sich geläutert." (Arnulf Häfele, Die Schweiz als Vorbild ... siehe Link u.)

Die Schweiz als gelobtes Land! Nach dem ersten Weltkrieg galt Österreich vielen als nicht überlebensfähig, sowohl ideologisch als auch wirtschaftlich. Für das an die Schweiz angrenzende Land Vorarlberg galten die ausgeprägten demokratischen Rechte der Eidgenossen im Gegensatz zum feudalabsolutistischen und gegenreformatorischen Habsburgerreich seit jeher als erstrebenswert. Die Vorarlberger wandten sich schon im Appenzeller Krieg (1404-08 ) von der Österreichischen Herrschaft und Habsburg ab. Am 14. Juni 1405 unterlag Herzog Friedrich IV. von Tirol (der mit der leeren Tasche) am Stoos bei Altstätten, worauf sich Feldkirch, Bludenz, Rankweil und Götzis, 1406 auch der Bregenzerwald, dem "Bund ob dem See" anschlossen. Die Burgen Jagdberg, Tosters, Ramschwag, Bürs und Alt-Montfort wurden zerstört, die Appenzeller drangen bis Landeck vor. Sie belagerten Bregenz, konnten es aber nicht einnehmen. Am 13. Januar 1408 erlitten sie jedoch bei Bregenz eine Niederlage gegen ein Heer des schwäbischen Ritterbundes Sankt Jörgenschild und der Bischöfe von Augsburg und Konstanz. 1408 wurde in Konstanz Frieden geschlossen: Der Bund ob dem See musste sich auflösen, den Mitgliedern wurden aber die alten Freiheiten und Privilegien bestätigt. Vorarlberg kehrte unter die habsburgische Herrschaft zurück.

Nach dem Zusammenbruch der österreichisch-ungarischen Monarchie erklärte sich Vorarlberg 1918 auf staatsrechtlich revolutionärem Wege seine Selbständigkeit und schloss sich nur provisorisch 'Deutschösterreich“ an.

Die Landesverfassung von 1919 ist sowohl aus Bestandteilen von eidgenössischen Kantonsverfassungen als auch aus Anleihen der schweizerischen Bundesverfassung zusammengebaut worden. Die absolute Hauptquelle war ganz konkret die Verfassung des benachbarten Kantons St. Gallen, die in vielen Passagen wörtlich übernommen wurde. Auffallend für die verfassungsrechtlichen Verhältnisse waren die Aufnahme von Grundrechten in eine Landesverfassung und das große Engagement für die direkte Demokratie in der Landesverfassung von 1919. Praktische Bedeutung haben beide Punkte allerdings nicht erlangt.

Ferdinand Riedmann. Den Anstoß für eine Anschlussbewegung an die Schweiz gab der Lustenauer Lehrer Ferdinand Riedmann. Er gründete ein Komitee, das für den Anschluss an die Schweiz warb, und stieß damit auf große Zustimmung unter den Vorarlbergern. Der neu konstituierte Vorarlberger Landtag ignorierte die Bestrebungen Riedmanns zunächst, nach einer Unterschriftenaktion war man jedoch gezwungen, sich damit zu befassen. Am 11. Mai 1919 kam es zur Volksbefragung, eine Mehrheit von 82 Prozent stimmte für das Vorhaben. Der Friedensvertrag von St. Germain machte dann aber allen Anschluss-Bestrebungen ein Ende.

Riedmanns politisches Ende kam von „oben“: Im Anschluss an ein vom Landesschulrat durchgeführtes Disziplinarverfahren wurde er nicht nur als Lehrer suspendiert sondern auch zur Niederlegung der politischen Ämter angehalten. Ob diesem Verfahren im Jahre 1924 tatsächlich eine dienstliche Verfehlung vorangegangen war oder ob der Präsident des Landesschulrates, Landeshauptmann Dr. Ender, einen geringen Anlass zur Ausschaltung Riedmanns benutzte, lässt sich heute nicht mehr feststellen. Der betreffende Akt ist im Landesarchiv nicht mehr vorhanden.


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